Das Hauptmerkmal – und das Hauptproblem – deutscher Außenpolitik ist ihre Mehrdeutigkeit. In keinem der entscheidenden außenpolitischen Politikfelder vermittelt Deutschland ein Bild vollständiger Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Dies steht in deutlichem Widerspruch zur Selbstwahrnehmung der Deutschen, die sich im Allgemeinen für besonders gute Partner halten.

Während für andere außenpolitische Akteure der Befund von mangelnder außenpolitischer Verlässlichkeit verschmerzbar ist, ist er für ein Land von der Größe, Wirtschaftskraft, geografischen Lage und Geschichte Deutschlands fatal.

Jan Techau
Techau war Direktor von Carnegie Europe, dem europäischen Zentrum des Carnegie Endowment for International Peace. Techaus Forschungsschwerpunkte waren die EU-Integration und -Außenpolitik, transatlantische Beziehungen sowie die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.
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Berechenbarkeit und Verlässlichkeit sind außenpolitische Kerntugenden, zumal für ein Land, das so viel direkten und indirekten Einfluss hat, von dem so viel abhängt und auf das so erwartungsvoll geblickt wird.

Wie zeigt sich diese Mehrdeutigkeit? In keinem der Kernbereiche deutscher Außenpolitik zeigt Deutschland das Engagement, die Standfestigkeit, die Investitionen und die Kreativität, die eigentlich erforderlich wären.

Dies betrifft die deutsche Europapolitik ebenso wie das Verhältnis zur NATO. Dies ist im Verhältnis zu Russland, in Handelsfragen und in den besonders wichtigen bilateralen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten deutlich geworden.

Deutschland muss wieder Mustereuropäer werden

In der Europapolitik verfügte Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg über ein besonderes Maß an Glaubwürdigkeit, weil es sich besonders integrationsfreudig verhielt. Deutschland signalisierte damit, dass es mehr als andere bereit war, Abstriche beim engen Eigeninteresse zugunsten des europäischen Gesamtinteresses zu machen.

Deutschland war bereit, immer etwas mehr zu geben und immer etwas eher zurückzustehen als andere. Dadurch wurde Deutschland zum dienenden Führenden ("servant leader") und zur unumstrittenen Reservemacht, die hohes Vertrauen besaß und dem man die gelegentlichen Alleingänge eher verzieh als anderen Mitgliedsstaaten.

Dieses Image und der Vertrauensbonus sind seit dem Ende der Neunziger Jahre sowohl unter Gerhard Schröder als auch unter Angela Merkel stetig geschrumpft und wurden durch diverse Positionen Deutschlands in der EU weiter beschädigt.

Dies reicht von der exzessiven Austeritätspolitik in der Eurokrise über die Verhinderungspolitik Deutschlands in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) bis hin zur Unterminierung der gemeinsamen Handelspolitik im Verhältnis zu China. Auch in der Energiepolitik steht Deutschland im Verdacht, seine Energieunternehmen zulasten einer gemeinsamen internen Marktpolitik und externen Positionierung gegenüber Russland zu schützen.

Hinzu kommt eine unklare Position in der Frage der grundlegenden politischen Reform der EU. Dass so wenige andere Mitgliedsstaaten sich in dieser Frage positionieren, hat auch damit zu tun, dass Deutschland nicht führt.

Deutschland sollte alles versuchen, in die Rolle des Mustereuropäers zurück zu gelangen, auch wenn dies innenpolitisch schwerer zu vermitteln ist als in früheren Jahrzehnten. Der europäische Einigungsprozess basierte zu einem guten Teil darauf, dass Deutschland bereit war, mehr zu geben als andere. Dies hat dem Land, trotz mancher Mehrkosten im Einzelfall, insgesamt enorm genutzt und seinen Einfluss gemehrt. Seitdem Deutschland ein "normaler Europäer" geworden ist, stockt der Integrationsprozess und das Misstrauen gegenüber Berlin steigt.

In einer dramatischen weltpolitischen Lage, die in den kommenden Jahrzehnten eine neue Ordnung hervorbringen wird, wird europäische Integration wieder zur Zukunftsfrage. Wenn Deutschland jetzt nicht investiert, wird es einen europäischen Bedeutungsverlust ohne Beispiel geben.

Westbindung bleibt Schicksalsfrage

Ähnliches gilt für das atlantische Bündnis. Trotz eines nominell starken militärischen Engagements hat Deutschland sich den Ruf eines unsicheren Kantonisten in der Allianz erarbeitet. Trotz des jüngsten Vorstoßes, gemeinsame Projekte der Militärallianz mit dem "Framework Nation Concept" voranzutreiben, gilt Deutschland als nur mäßig an der Fortentwicklung der NATO interessiert. Es wird als Status quo orientiertes Land gesehen, dass weder eine intensivere Befassung mit der Landesverteidigung und Art. 5 wünscht, noch an einer Entwicklung einer flexiblen Allianz zur Wahrung der globalen Sicherheitsinteressen seiner Mitgliedstaaten interessiert ist.

Deutschland hat zudem seine eigene Streitkräftereform weitgehend unkoordiniert allein geplant. Sein angeblicher Parlamentsvorbehalt wird als das wahrgenommen, was er in Wirklichkeit ist, nämlich ein Exekutivvorbehalt (im Parlamentarismus kann es systembedingt keinen Parlamentsvorbehalt geben). Und seine stetige Rücksichtnahme auf russische Befindlichkeiten, zuletzt in der Frage, wie viel Rückversicherung (reassurance) und Abschreckung (deterrence) im Bündnis in der Russland/Ukraine-Krise geboten sind, stellen seine Zuverlässigkeit als Verteidigungspartner in Frage.

Hinzu kommt eine massiv national ausgerichtete Rüstungspolitik, die trotz kleinerer Vorstöße als einer der Hauptgründe für die mangelnde Kooperation bei Beschaffungsvorhaben angesehen wird. Das deutsche Veto gegen die Fusion zwischen dem europäischen Luft- und Raumfahrtkonzern EADS und dem Konzern BAE Systems hat diesen Eindruck deutlich verstärkt.

All dies wäre nicht so schädlich, wenn Deutschland nicht in der NATO, genau wie in der EU eine Sonderrolle einnähme. Die Mitgliedschaft in der NATO ist der sichtbarste Nachweis deutscher Westbindung. Die Westbindung wiederum ist die zentrale politische und strategische Schicksalsfrage für Europa.

Ob Frieden und Stabilität in Europa herrschen, hängt mittel- und langfristig davon ab, ob Deutschland entgegen eines Teils seiner Instinkte, fest zum Lager der demokratischen, marktwirtschaftlichen, rechtsstaatlichen Nationen des Westens gehört, oder ob es seinen Neutralitäts- und Äquidistanz-Träumen (die in der Ukrainekrise wieder auf beschämende Art offenbar geworden sind) nachgibt.

Deutschland muss massiv in seine NATO-Mitgliedschaft investieren, sowohl politisch als auch finanziell und muss mehr zu den schwindenden operativen Fähigkeiten des Bündnisses beitragen. Deutsche Außenpolitiker müssen die Zentralität der Westbindung wesentlich offener thematisieren, und die Öffentlichkeit besser auf die zunehmenden militärischen Sicherheitsrisiken in Europas Nachbarschaft und weltweit vorbereiten. Unterbleibt dies, wird die politische Unterstützung durch den Souverän fehlen wenn die Regierung Entscheidungsspielraum im Krisenfall benötigt.

Weg von der Moraldebatte

Um die erwähnten politischen Investitionen öffentlich abzusichern, muss die außen- und sicherheitspolitische Debatte in Deutschland massiv verändert werden. Diese Debatte ist noch immer vorwiegend an moralischen Gesichtspunkten ausgerichtet. Deutschland braucht aber eine vorwiegend an der Verantwortung ausgerichtete Diskussion.

Nach dem 2. Weltkrieg entwickelten die traumatisierten und moralisch bankrotten Deutschen einen enormen Hunger nach moralischer Klarheit in allen politischen Fragen. Die Verunsicherung darüber, ob man nicht am Ende doch wieder versagen würde, war groß, und so wurde die moralische Tiefendurchdringung aller politischen Fragen zum Kernmerkmal der deutschen politischen Kultur. Die Kultur herrscht noch heute vor, und zwar über alle Politikfelder hinweg. Der verunsicherten Gesellschaft dient dies als Selbstvergewisserung darüber, dass man auf der richtigen Seite steht.

In der Außenpolitik stößt diese Herangehensweise an ihre Grenzen, denn hier ist moralische Klarheit nur selten zu erlangen. Außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen müssen fast immer in einer moralischen Grauzone gefällt werden, die ein Abwägen zwischen unbefriedigenden Optionen erfordert. Moralische Dilemmata sind kaum aufzulösen.

Aufgrund des übergroßen Bedürfnisses nach moralischer Klarheit sind diese Abwägungen für die Deutschen fast unerträglich. Das führt dazu, dass Deutsche die Abwägung krampfhaft zu vermeiden versuchen. Das Resultat ist eine Kultur der Passivität, des Sich-Heraushaltens und der Ablehnung einer aktiven Rolle in der internationalen Politik, besonders in Fragen des Einsatzes militärischer Mittel.

Deutsche Außenpolitiker haben in der Debatte die Pflicht, die Deutschen daran zu erinnern, dass die moralischen Abwägungen notwendig sind, und dass das Land ihnen gelassen und optimistisch entgegensehen kann. Deutschland ist eine gefestigte Demokratie mit stabilen Institutionen. Es hat eine stabile demokratische Kultur. Es kann solche Abwägungen meistern. Und wenn sie sich fallweise als falsch herausstellen, dann ist das eben gerade nicht gleichbedeutend mit dem erneuten Zivilisationsbruch.

Diese Botschaft war der Zweck der Rede des Bundespräsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014. Joachim Gauck zielte auf die Wurzel des Problems, nämlich das deutsche Trauma und das daraus resultierende Bedürfnis, moralisch tadellos zu sein.

Mehr deutsche Außenpolitiker sollten es Gauck gleichtun. Erst wenn die Deutschen verstehen, dass sie sich selbst längst vertrauen können, wird es in der Außenpolitik Spielräume hin zu einer Verantwortung geben, die nicht mehr nur Verantwortung fürs eigene Gewissen ist, sondern für Prinzipien, Friedensordnungen und Regelwerke, deren Durchsetzung nicht allein dem guten Willen überlassen werden kann, sondern häufig einen Preis fordern.

Was kann getan werden?

  • Gesetzliche Einführung einer dreijährig wiederkehrenden Berichtspflicht der Bundesregierung zur programmatischen Ausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Parallel dazu einen alle drei Jahre aktualisierten Bericht zur strategischen Situation der Bundesrepublik Deutschland, inklusive Analyse globaler Trends;
  • Schaffung eines integrierten außen- und sicherheitspolitischen deutschen Planungs- und Analyseinstrumentes, analog zum National Security Council in den USA, im Bundeskanzleramt (Nationales Sicherheitsbüro);
  • Präsentation eines Konzepts für die Weiterentwicklung der EU zu einer politischen Union nach der Eurokrise als Folgeprojekt des Lissabonner Vertrags;
  • Erhebliche Stärkung der europäischen außenpolitischen Fähigkeiten, inklusive grundlegende Reform des Europäischen Auswärtigen Diensts (EAD), der Arbeitsteilung zwischen EAD und Kommission, der Ausweitung der zivilen und militärischen GSVP-Missionen, sowie eines ambitioniert geführten EU-Strategieprozesses auf der Basis des Gipfelmandats vom Dezember 2013;
  • Unterlassung aller deutschen handelspolitischen Alleingänge;
  • Vorlegen eines deutschen Konzeptpapiers zur internen Flexibilisierung der NATO als Anpassung an die komplexerer Sicherheitslage in Europa (Ermöglichung von institutionell abgesicherten "Koalition der Willigen" innerhalb der Allianz);
  • Grundlegende Reformierung des deutschen militärischen Beschaffungswesens im Bundesministerium der Verteidigung, Neuanlauf bei der Fusionierung von EADS und BAE Systems, Aufgabe der deutschen Hinhaltepolitik in der Europäische Verteidigungsagentur (European Defense Agency);
  • Entschlossene Reformierung des sogenannten deutschen Parlamentsvorbehalts hin zu einem Rückrufrecht des Bundestages (Ablehnung von Vorratsbeschlüssen);
  • Erhebliche Verbesserungen bei der technischen Ausstattung der deutschen Geheimdienste;
  • Eingliederung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in das Auswärtige Amt;
  • Aufwertung und Umgestaltung der Bundesakademie für Sicherheitspolitik hin zu einer Strategieschule (level 4 education) von Weltrang; laufbahnrechtliche Verbindlichkeit zur Ausbildung an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) für "politische" Bundesbeamte und Offiziere mit Laufbahnziel Generalstabsoffizier. Unterstellung der BAKS unter das Nationale Sicherheitsbüro;
  • Umbau der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu einem modernen, policy-orientierten Think Tank mit erheblich vergrößerter Rolle in der öffentlichen Debatte;
  • Aufwertung und Reformierung des bestürzend provinziell ausgerichteten deutschen Auslandssenders Deutsche Welle (DW) hin zu einem professionell gestalteten, auf internationalem Niveau arbeitendem Informationsvollprogramm in Hörfunk, TV und Online;
  • Aufwertung der deutschen auswärtigen Kulturpolitik, insbesondere des Goethe-Instituts.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Review 2014 veröffentlicht.